Europaweit erfolgreich: Berliner Brillen-Start-up aus der Greifswalder Straße

Mister Spex hat dieser Tage eine denkwürdige Premiere gefeiert: Zum ersten Mal hat das online Brillen verkaufende Unternehmen einen Mitarbeiter in den Altersruhestand verabschiedet. Der erste Rentner in dem Start-up! Wie passt das denn zusammen? Mister Spex ist seit neun Jahren am Markt und feiert schon seinen ersten Pensionär! Aus dem Start-up in den Ruhestand – das dürfte noch nicht bei vielen der wendigen und innovativen Firmen-Newcomer vorgekommen sein.

Heißt das, dass Mister Spex mittlerweile ein normales Unternehmen geworden ist, eben ein typischer Mittelständler mit allen Facetten? „Nein“, sagt Geschäftsführer und Gründer Dirk Graber entschieden, „das sind wir nicht“. Schon allein das Wort „Mittelstand“ mag er nicht, denn das klinge „so etabliert, so behäbig“. Und natürlich darf ein Start-up, auch wenn es schon einige Zeit am Markt ist und sich behauptet hat, keineswegs den Anschein von Etabliertheit und Behäbigkeit erwecken. Dirk Graber betont stattdessen: „Wir wollen die Mentalität eines Start-ups hochhalten.“

Fast schon ein Großbetrieb

Was das ist, darüber wird noch zu reden sein. Aber allein von den unternehmerischen Fakten her ist Mister Spex ein Mittelständler der Extraklasse und für Berliner Verhältnisse schon fast ein Großbetrieb. Rund 400 Mitarbeiter mit 24 verschiedenen Nationalitäten sind mittlerweile in dem Online-Brillenshop tätig, davon allein etwa 40 Augenoptiker. Der Umsatz lag im Jahr 2014 bei 65 Millionen Euro und hat sich damit im Vergleich zu 2012 mehr als verdoppelt. Das Unternehmen ist in elf Ländern in Europa aktiv und hat etwa zwei Millionen Kunden – deren Zahl steigt immer weiter. Täglich werden Tausende Pakete verschickt, der Rekord liegt bei knapp über 9000.

Was das in der Greifswalder Straße im Prenzlauer Berg sitzende Unternehmen von einem normalen Mittelständler aus der Metall- und Elektroindustrie sicherlich schon unterscheidet, ist das niedrige Durchschnittsalter. Bei Mister Spex liegt es bei Mitte Dreißig – darin ist der jetzige Altersrentner noch enthalten. Das ist weit vom Durchschnitt der Fachkräfte insgesamt in Berlin entfernt. Im Jahr 2007 lag dieses noch bei 40,5 Jahren. Aktuell ist es schon bei 44,6 Jahren und wird bis 2030 auf über 46 Jahre steigen.

Besondere Ansprüche

Natürlich verfügt auch Mister Spex über das, was gemeinhin und klischeehaft unbedingt zu einem bekennenden Start-up gehört. Der Kicker ist vorhanden, wenn auch nicht permanent in Nutzung. Die Tischtennis-Platte ist inzwischen dem Platzmangel zum Opfer gefallen. Es gibt eine Aktions-Küche, in der man sein Essen selbst zubereiten kann. Im Beratungsraum, der in liebvoller Anspielung auf die Konkurrenz „Fielmann“ genannt wird, gibt es auch frisches Obst, Gemüse, Müsli, Milch (drei Sorten), Tee oder Kaffee für alle – und zwar kostenlos. Logisch, dass ein Mixer für Smoothies vorhanden ist, auch wenn dieser zum Zeitpunkt des Besuchs in der Greifswalder gerade im Unternehmen gesucht wurde.

Manch einer, so Graber, bekomme erst bei einem Wechsel zu einem anderen Unternehmen mit, dass das alles keineswegs eine Selbstverständlichkeit sei. Aber ein Start-up muss halt mit einer besonderen Anspruchshaltung leben: So tauchte auch schon mal die Frage auf, wieso es kein Frühstück auf Firmenkosten gäbe.

Größeres Risiko als andere Unternehmen

Kicker und Smoothies gehören zur Grundausstattung eines Start-ups. Aber darüber hinaus gibt es Dinge, die einfach anders gemacht werden als in etablierten Unternehmen. Dirk Graber kommt hier auf die Firmen-Philosophie und die Mentalität zu sprechen. „Wir wollen frei von tradierten Lösungsmustern vorgehen und abseits der normalen Wege“, sagt er. Das Team probiere viel aus und hinterfrage Dinge, wie sie „schon immer am Markt gemacht“ würden. „Wir gehen dabei ein größeres Risiko ein als andere Unternehmen, und wir machen Fehler, aber wir versuchen, sie nicht zu groß werden zu lassen.“

Er räumt in diesem Zusammenhang mit Klischees auf: Risiko bedeute nicht Roulette wie im Casino. Und im Start-up werde zudem, um „keine falsche Romantik aufkommen zu lassen“, hart gearbeitet: „Das hat nichts damit zu tun, mit einem Laptop den ganzen Tag in einem Café zu sitzen.“ Das sollte allerdings auch in einer normalen Firma der Fall sein – dass die Mitarbeiter nicht nur im Café sitzen.

Mitarbeiter sollen viel mitentscheiden

Das Unternehmen fordere viel von seinen Mitarbeitern, sagt Graber, aber die Mitarbeiter sollen in „einer offenen Kultur“ arbeiten und mitentscheiden können. Sie sollen immer wissen, wie sich das Unternehmen entwickelt. Dafür hat Mister Spex seine eigenen Formen entwickelt. Jeden Monat wird das gesamte Team, also alle 400 Mitarbeiter, zum Info-Meeting eingeladen. Dann präsentiert die Geschäftsführung die aktuellen Umsatz- und Ergebniszahlen und erläutert, wie weit das Unternehmen beim Erreichen der Ziele gekommen ist. „Wir wollen so transparent sein wie möglich.“ Die fünf aktuellen Firmenthemen werden besprochen. Beim Meeting Ende Juli ging es unter anderem um die neue IT-Plattform für die Online-Shops in Skandinavien und deren Re-Branding: Sie werden künftig auch unter „Mister Spex“ firmieren.

Anfang 2015 hatte die Berliner Firma den norwegischen Kontaktlinsen-Onlineshop Lensit.no und bereits 2013 die schwedischen Online-Eyewear-Shops Lensstore und Loveyewear übernommen. Vor dem Meeting können die Mitarbeiter zudem anonym Fragen einreichen, von denen stets drei beantwortet werden.

Graber und mit ihm das gesamte Management sind Freunde flacher Hierarchien. „Viele Probleme können so direkt gelöst und Fragen geklärt werden“, sagt er. „Dazu braucht es nicht den Umweg über einen Teamleiter.“ Dafür sind unter anderem die Lunch Dates erfunden worden. Mitarbeiter tragen sich – natürlich freiwillig – in eine Pool-Liste ein, aus der dann jeweils zwei nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden, und diese zwei gehen zusammen essen. Auf eigene Kosten. Damit werden Kontakte über Bereichsgrenzen hinaus geknüpft. Zudem führen die Teamleiter einmal im Halbjahr sogenannte Feedback-Gespräche mit jedem Mitarbeiter.

Es gibt noch viele andere Dinge, mit denen das Management von Mister Spex deutlich macht, welche Wertschätzung die Mitarbeiter, ihre Arbeit und ihre Meinung genießen. Bewirbt sich beispielsweise jemand auf eine Stelle im Unternehmen, erhält er in der Regel sofort eine Eingangsbestätigung. Will Mister Spex ihn näher kennenlernen, kommt innerhalb einer Woche die Einladung. Neue Mitarbeiter erhalten einen ganzen Tag lang ein „Onboarding“, dann werden sie mit Firma vertraut gemacht. Was im Unterschied zu anderen Firmen auch ein veritables Unterfangen ist: Schließlich wurde seit 2014 im Durchschnitt jede Woche mindestens ein Neuer eingestellt. Graber nennt es im Gespräch ein Glück, dass Mister Spex im Jahr beim Umsatz „nur zwischen 30 und 50 Prozent gewachsen“ sei. So habe man alle Mitarbeiter bei der Weiterentwicklung des Unternehmens „mitnehmen“ können. Nach einem Betriebsrat habe noch niemand gefragt.

„Im Herzen sind wir immer noch ein Start-up“, betont der 39-jährige Geschäftsführer. Auf die Frage, wann denn Mister Spex ein „normales“ Unternehmen werde, kommt die Antwort sofort: „Ich hoffe niemals.“ Der nächste, der in Rente gehen könnte, hat auch noch ein paar Jahre vor sich.

Berliner Zeitung Online:http://www.berliner-zeitung.de/berlin/europaweit-erfolgreich-berliner-brillen-start-up-aus-der-greifswalder-strasse-24632358