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Die Revolution im Ohr

„Arioso Systems“ ist das aktuelle Ausgründungsprojekt des Fraunhofer-Instituts für Photonische Mikrosysteme IPMS, das in Cottbus einen Institutsteil unterhält. Mit Arioso sollen völlig neuartige miniaturisierte Lautsprecher den Markt erobern. Sie arbeiten mit Siliziumstrukturen und setzen bei der Entwicklung von Hearables neue Maßstäbe.

 

Diese drei Titel machen den Unterschied: die „Ode an die Freude“ aus Beethovens 9. Sinfonie, die Titelmelodie des Films „Star Wars“ und nicht zu vergessen der legendäre Queen-Song „We Are The Champions“. Eine vielleicht programmatische Auswahl. „Wir haben die Musik schon einigen großen Firmen aus unseren Lautsprechern vorgespielt“, berichtet Prof. Dr.-Ing. Dr. rer. nat. habil. Harald Schenk, Leiter des Dresdner Fraunhofer-Instituts für Photonische Mikrosysteme IPMS und Professor für Mikro- und Nanosysteme an der Brandenburgischen Technischen Universität BTU Cottbus – Senftenberg. Die Reaktionen auf die Musikvorführungen mit den neu entwickelten Mikro-Lautsprechern seien „exzellent“ gewesen. Kein Wunder: Denn Schallintensität sowie Schallqualität überzeugen.

Seit Jahren schon arbeiten IPMS-Forschungsgruppen in Dresden und in Cottbus an Mini-Lautsprechern, die anstelle von feinmechanischen Elementen elektrostatische Nanoaktoren auf Siliziumbasis nutzen. „Damit sinken die Herstellungskosten enorm“, erklärt Prof. Dr. Harald Schenk. Kern der Neuentwicklung ist eine Schallkammer mit beweglichen Seitenwänden, die aus Siliziumbändchen bestehen. Bei elektrischer Anregung bewegen sich die Siliziumbändchen und periodisch wird Luft nach außen gedrückt beziehungsweise angesaugt. „Das ist das, was eine Membran macht“, erläutert Prof. Dr. Harald Schenk. Dabei sind die Seitenwände dünner als der Durchmesser eines Haares, der bei 60 bis 80 Mikrometern liegt. Bisher war es ein Problem, Bässe ohne die traditionelle Membran in entsprechender Qualität wiederzugeben. Doch das haben die Fraunhofer-Forscher gelöst: „Wir können Bässe mit gleicher Intensität wie andere Frequenzen wiedergeben“, betont der Institutsleiter.

Nanoaktoren mit einer solchen Qualität eröffnen enorme Perspektiven beim Einsatz in Hearables, also in Ohrhörern mit zusätzlichen Funktionen wie Drahtlosverbindungen zum Smartphone. Über die Hightech-Knöpfe im Ohr können sich die Nutzer beim Joggen den Puls ansagen lassen. Mit einem integrierten Beschleunigungssensor können sogar mit einfachen Kopfbewegungen Telefonanrufe, die auf dem Smartphone eingehen, angenommen oder abgelehnt werden. Über eine Sprachsteuerung wären Einkäufe und Bankgeschäfte via Internet möglich. Selbst Simultanübersetzungen können direkt aufs Ohr geschickt werden, schwärmt Prof. Dr. Harald Schenk. Die Vielzahl der dabei eingesetzten Sensoren wird heute schon auf Siliziumbasis hergestellt. Die große Ausnahme bilden die Lautsprecher. Bisher jedenfalls sind die drei bis vier Millimeter kleinen Bestandteile der Hearables noch ein Werk der Feinmechanik. Prof. Dr. Harald Schenk zufolge dominieren zwei Produzenten den Weltmarkt. Selbst bei der Abnahme großer Stückzahlen seien die Kosten für diese Lautsprecher vergleichsweise hoch. Das würde sich mit einer von Arioso Systems geplanten Herstellung auf Basis der Siliziumtechnologie ändern. „Arioso“ ist übrigens ein Begriff aus der Musik und steht für „liedhaft“.

In den IPMS-Lautsprechern mit Nanoaktoren stecken etwa zehn Patente, so Prof. Dr. Harald Schenk. Für die Ausgründung würden jetzt Investoren gesucht. Der IPMS-Chef rechnet mit einem Kapitalbedarf von zunächst erst einmal 3,5 Millionen Euro. Dieses Projekt des Fraunhofer-Instituts liegt ihm sehr am Herzen. Der Physiker beschäftigt sich seit rund 20 Jahren mit elektrostatischen Aktoren auf Siliziumbasis. Im Jahr 2012 brachte der Wissenschaftler der Fraunhofer-Gesellschaft die Projektgruppe „MESYS – Mesoskopische Aktoren und Systeme“ an den Start, zu der sechs Mitarbeiter an den Standorten Dresden und Cottbus gehörten. Das war der Beginn der Zusammenarbeit des Dresdner IPMS mit der Brandenburgischen Technischen Universität BTU Cottbus – Senftenberg, an der Harald Schenk die Professur für Mikro- und Nanosysteme übernahm.

Unter seiner Ägide bildete sich ein gemeinsamer Cluster von insgesamt sechs Fachgebieten an der BTU zum Thema Funktionale Materialien für energieeffiziente Systeme. In dieser Kooperation werden Doktoranden aus den Fachgebieten Physik und Chemie gemeinsam betreut. Zudem wurde im Jahr 2018 auf dem Campus der BTU ein neuer Institutsteil des IPMS gegründet: Der Bereich „Integrated Silicon Systems“ (ISS) umfasst das Geschäftsfeld der monolithisch integrierten Aktor- und Sensorsysteme sowie die Arbeitsgruppe „Terahertz-Mikromodule und -Applikationen“. Gegenstand von Forschungsarbeiten am IPMS-ISS sind beispielsweise Mikrodosiereinheiten für Insulinpumpen. Und auch die neuen Mikrolautsprecher können längst nicht nur in Hearables eingesetzt werden. Sie können ebenso für medizinische Hörgeräte genutzt werden. „Es ist erstaunlich, was wir hier am Standort Cottbus geschaffen haben“, sagt Prof. Dr. Harald Schenk. 

20 Mitarbeiter hat der Institutsteil in Cottbus derzeit. Doch dabei soll es nicht bleiben. Bis zum Jahr 2023 soll das IPMS-ISS einen Neubau auf dem Campus bekommen. „Cottbus soll auch Heimat für andere Forschungsgruppen der Fraunhofer-Gesellschaft werden“, sagt Institutsleiter Prof. Dr. Harald Schenk. Für ihn ist der Institutsneubau ein Meilenstein in der Entwicklung des Fraunhofer-Instituts und der Zusammenarbeit mit der BTU. Mit ihm werde auch in die technologische Ausstattung des Standorts in Brandenburg investiert. Prof. Dr. Harald Schenk: „Bisher nutzen wir durch die enge Zusammenarbeit mit Dresden diese Technologien für den Institutsteil ISS.“ Letzterer werde ein „eigenständiges Profil bekommen“.

Ein wichtiger Schritt für den Forschungsstandort Cottbus soll mit dem Innovationscampus Mikrosensorik Cottbus gemacht werden. Dieses Vorhaben, das im Rahmen des Strukturwandels im Sofortprogramm der Bundesregierung gefördert werden soll, führt zwei Fraunhofer-Institute, zwei Leibniz-Institute und die BTU zusammen.

Es ist geplant, dass im Jahr 2028 rund 120 Wissenschaftler in Cottbus im Auftrag der Fraunhofer-Gesellschaft forschen. Prof. Dr. Harald Schenk hofft darauf, dass diese Investitionen weitere Ausgründungen hervorbringen. Das würde dem IPMS-ISS eine „gewisse Sichtbarkeit“ auf dem internationalen Markt verschaffen.

Kontakt

Prof. Dr. Harald Schenk
Brandenburgische Technische Universität BTU Cottbus – Senftenberg
Fakultät 1
Fachgebiet Mikro- und Nanosysteme
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03046 Cottbus
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